Saturday December 31, 2022
Ich habe das Bedürfnis, mich zum Jahreswechsel zu verhalten, doch mir fehlen die Stränge, die ich in Worte knüpfen könnte. Von diesem zu warmen, zu windigen und zu sonnenlosen Tag aus gesehen lässt sich nicht viel Positives für das vergangen Erlebte oder das zukünftig Erhoffte destillieren, die eigene Stimmung verharrt im mild-Melanchonischen und mein innerer Stoiker lässt dies geschehen. Ob unsere Zeit in diesen Jahren dereinst als eine Abfolge größerer Krisen betrachtet wird, wie von den positiveren Zeitgenossen angenommen, oder doch als Vorspiel zu einer noch viel größeren Katastrophe, wie das die weniger optimistischen sehen, werden die Geschichtsschreiber der Zukunft deutlich besser beurteilen können als ich. Mein Gefühl ist, dass die Welt an immer neuen Stellen entflammt, auch wenn wir inzwischen einen unsäglichen US-Präsidenten (zumindest vorübergehend) und eine weltweite Pandemie (zumindest deren akute Phase) überstehen konnten. Dabei bräuchte es eigentlich – vor allem in Bezug auf den Klimawandel – konzertierte Löschaktionen. Doch die Grässlichkeit des Krieges, der durch die russische Aggression auf ukrainischen Boden ausgefochten wird, lässt kaum vermuten, dass ein Entwurf wie “Weltgemeinschaft” in absehbarer Zeit noch einmal gedacht werden kann. Der Krieg scheint mir auch nur der wahrnehmbarste (und zugleich furchtbarste) Auswuchs eines Prozesses zu sein, den ich momentan als die bedrohlichste aller Entwicklungen annehme – eine Polarisierung, die nicht nur geopolitisch, sondern auch einzelgesellschaftlich greift. Damit umzugehen, ohne auf der einen Seite Aggressoren durch Konzessionen zu belohnen und ohne auf der anderen Seite Gleichgesinnte durch Radikalisierung zu vergrämen, halte ich für die große Aufgabe unserer Zeit. Und das für mich auszubuchstabieren ist doch mal ein guter Vorsatz für das neue Jahr. Da habe ich ja doch noch einen Strang gefunden. Rutscht gut und bleibt konsensorientiert!